Die Architektur: modern-kubistisch mit deutlichen Anklängen des Bauhaus-Stils. Die Farben: Weiß, gemischt mit hellen Grau- und Grüntönen. Das Drumherum: eine Parklandschaft mit Rasenflächen, Bäumen und Spielplätzen. Wiesbaden-Weidenborn ist ein neues Quartier ganz nach dem Geschmack junger Familien – und all jener, die sich den Energiespar- und Klimaschutzzielen der Bundesregierung besonders verpflichtet fühlen.
Die GWW Wohnbaugesellschaft der hessischen Landeshauptstadt hat hier 2012 einen bundesweit bislang einmaligen Modellversuch gestartet: Nebeneinander wurden vier baugleiche Mehrfamilienhäuser mit jeweils fünf Geschossen und elf Wohnungen errichtet. Zwei davon lediglich nach den damals gültigen Bauvorschriften, ohne größeren ökologischen Aufwand. Die anderen beiden sind besonders energiesparende Passivhäuser, die aufgrund ihrer hervorragenden Wärmedämmung größtenteils ohne Heizenergie auskommen sollten. Doch was als Testvergleich mit scheinbar sicherem Ausgang begann, lieferte im ersten Betriebsjahr ein völlig unerwartetes Ergebnis: Der Heizenergieverbrauch in den Passivhäusern ist kaum geringer als in den zwei nach allgemeinen Bauvorgaben errichteten Mehrfamilienhäusern. Ist das neue Nahrung für den mittlerweile hochemotionalen Streit zwischen Befürwortern und Kritikern der Wärmedämmung?
Passivhäuser sollen durch ihre dicht Hülle aus Polystyrol, Glas- oder Steinwolle so gut gedämmt sein, dass allein die Körperwärme der Bewohner ausreicht, um ein wohltemperiertes Raumklima zu schaffen. Allenfalls an kalten Tagen müsste noch zugeheizt werden. Nach Definition soll der Heizwärmebedarf eines Passivhauses nicht mehr als 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr betragen. Wobei 15 Kilowattstunden etwa dem Energiegehalt von 1,5 Litern Heizöl entsprechen. Bei einer 100 Quadratmeter großen Wohnung würden also 150 Liter Heizöl reichen, um sie das ganze Jahr über warm zu halten.
Soweit die Theorie, auf die man sich in dieser Frage bisher verlassen musste. „Es existierten zwar Aussagen über die verschiedenen Bauweisen“, sagt GWW-Chef Hermann Kremer. „Aber nie zuvor sind nahezu identische Mehrfamilienhäuser beider Bauarten auf einem Grundstück konkret miteinander verglichen worden.“ In Wiesbaden-Weidenborn sollte dies nun geschehen. Und schon jetzt zeigt sich: Ganz so einfach, wie es die simple Rechnung nahelegt, ist es in der Praxis nicht. „Den höheren Baukosten, die für ein Passivhaus aufgewendet werden müssen, stehen bislang kaum messbare Einsparungen bei den Betriebskosten gegenüber“, stellt Kremer nach der Auswertung der Verbrauchsdaten für das vergangene Jahr ernüchtert fest.
Dabei waren die Passivhaus-Anhänger sich ihrer Sache sicher. Die starke Dämmung machte den Bau der beiden Passivhäuser zwar teurer. „Pro Quadratmeter beträgt die Differenz rund 250 Euro oder 13,5 Prozent“, sagt GWW-Chef Kremer. Statt der rund 1850 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, die bei den beiden Wohngebäuden nach Standardbauweise anfielen, kostete die Erstellung der zwei Passivhäuser also rund 2100 Euro pro Quadratmeter. Die Mieter in den Passivhäusern müssen deshalb für eine 70 Quadratmeter große Wohnung 10,67 Euro pro Quadratmeter zahlen, in den beiden herkömmlich errichteten Häusern sind es hingegen nur 9,35 Euro. Die höhere Kaltmiete sollte jedoch durch die Einsparungen beim Heizenergieverbrauch – beide Objekte werden mit Fernwärme beheizt – mehr als wettgemacht werden, so der Plan.
Doch es kam anders. In dem einen Passivhaus betrug der Wärmeverbrauch im vergangenen Jahr 17.054,10 Kilowattstunden (kWh) für die beheizten Flächen. Im anderen waren es 20.269,20 kWh. Damit lag in diesem Gebäude der Wärmeverbrauch sogar höher als in einem der herkömmlich errichteten Miethäuser, wo 20.165,20 kWh angefallen waren. Im zweiten Standardhaus schlug hingegen ein um über 25 Prozent höherer Verbrauch von 25.438,56 kWh zu Buche.
Werden die Verbrauchswerte jeweils aufaddiert, liegen unter dem Strich die beiden Passivhäuser beim reinen Wärmeverbrauch tatsächlich vorn. Ihr Gesamtverbrauch von 37.323,3 kWh liegt 18,2 Prozent unter den 45.603,76 kWh, die zusammen in den nach herkömmlicher Art errichteten Wohnhäusern anfielen.
Dafür mussten die Mieter in den Passivhäusern allerdings deutlich höhere Stromrechnungen begleichen. Mit zusammen 16.277 kWh war ihr gemeinsamer Stromverbrauch fast dreimal so hoch wie der in den Standardhäusern (5634 kWh). Die Ursache dafür sieht Kremer „in den eingebauten Lüftungsanlagen“. Um die Wohnungen in den stark gedämmten Häusern mit Frischluft zu versorgen und Feuchtigkeit sowie mit ausgeatmetem Kohlendioxid angereicherte Innenraumluft nach außen zu führen, müssen die Anlagen zumindest immer dann laufen, wenn die Bewohner zu Hause sind.
Entsprechend fällt dann auch das Fazit der GWW aus. Nach Auswertung der relevanten Daten nach dem ersten vollen Betriebsjahr seien die „Vorteile eines Passivhauses noch nicht erkennbar“, sagt Kremer. Noch schärfer formuliert es Thomas Keller, Leiter des Geschäftsbereichs Bau und Sanierung der GWW: „Würde man den Energieaufwand für die Herstellung der dickeren Dämmung und der dreifachen Verglasung, die beim Bau eines Passivhauses anfallen, in der Gesamtbetrachtung berücksichtigen, fiele deren Energiebilanz schlechter aus, da den erheblichen Mehraufwendungen kaum Einsparungen gegenüberstehen.“
Das erste Zwischenergebnis des Modellversuchs nehmen Dämmkritiker wie der Architekt Konrad Fischer mit Genugtuung zur Kenntnis. Fischer prangert seit Jahren mit markigen Worten das Dämmen nicht nur als Geldverschwendung an. Er sieht darin auch eine „Gefährdung der Gesundheit der Bewohner, weil sich in den Räumen solcher Häuser leicht Schimmel bilden kann“.
Galt Fischer lange als Außenseiter, ziehen inzwischen immer mehr Experten von wissenschaftlichem Rang und Namen gegen die Verpackung der Häuser zu Felde. Der Architekt Klaus-Jürgen Bauer, seit 2001 mit einem Lehrauftrag der TU Wien bedacht, hat dieses Jahr eine Streitschrift mit dem Titel „Entdämmt Euch!“ veröffentlicht. Das Konzept des Passivhauses sei ein Irrweg, weil es auf die automatisierte Belüftung angewiesen sei. Falle diese aus, „kann so ein Haus bauphysikalisch nicht mehr von selbst existieren“, schreibt Bauer in seinem Buch. „Es erstickt, es verschimmelt.“
Auf der anderen stehen Befürworter der Dämmung. Da gibt es nicht nur die Dämmstoffhersteller und die Bauwirtschaft, die großes Interesse daran haben, dass neue Wohnhäuser massiv verpackt und alte stärker gedämmt werden, weil sie damit Jahr für Jahr milliardenschwere Umsätze machen. Es gibt auch Architekten und Wissenschaftler, die überzeugt sind, dass eine starke Dämmung den Energieverbrauch in Gebäuden kräftig reduzieren kann. Zu ihnen zählt der Physiker Wolfgang Feist, der bereits 1996 in Darmstadt das Passivhaus-Institut gegründet hat. Die Einrichtung propagiert nicht nur den Bau von Passivhäusern. Sie hat auch ein Zertifizierungsverfahren für diese Immobilien entwickelt.
Verbrauchsdaten Tausender zertifizierter Passivhäusern würden zeigen, dass diese Immobilien tatsächlich kaum Heizenergie benötigten, sagt Sprecher Benjamin Wünsch. Die Frage sei jedoch, ob die von der GWW errichteten Passivhäuser überhaupt welche seien. „Beide Immobilien sind von uns nicht zertifiziert“, sagt Wünsch. „Wir kennen das Projekt nicht und haben keine transparenten Energiebilanzen gesehen.“
Bei der GWW wird diese Darstellung zurückgewiesen. „Eine Zertifizierung ist von unabhängigen Experten gerechnet und bestätigt worden“, sagt GWW-Sprecherin Alexandra May. „Zudem haben wir einen Antrag auf Zertifizierung an das Passivhaus-Institut gestellt.“ Alle relevanten Daten lägen in Darmstadt vor.
Die GWW will nun weiter beobachten, wie sich die Energiebilanz der Vergleichshäuser im Quartier Weidenborn entwickelt. Möglicherweise schneiden dann die Passivhäuser doch noch besser ab – wenn deren Mieter im Umgang mit den Wohnungen besser geübt sind. „Es gab von ihnen nach dem Einzug noch viele Fragen zum richtigen Heiz- und Lüftungsverhalten an unsere Techniker“, sagt May. Vor allem müssten die Mieter die Fenster geschlossen halten. „Im Gegensatz zu herkömmlichen Wohnungen sollte in Passivhäuser auf einen Luftaustausch durch die Fenster verzichtet werden“, sagt May. Dies erledige stattdessen das automatische Lüftungssystem.
Der Gesundheit der Bewohner sei dies jedoch nicht zuträglich, sagt der Architekt Manfred Heinlein aus Dießen am Ammersee. „Die Rohre der Belüftungsanlagen setzen sich mit der Zeit so mit Staub voll, dass Bakterien sich darin ideal vermehren können.“